THESENANSCHLAG


Hat Martin Luther am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen an Wittenberger Kirchentüren geschlagen, oder ist dies eine Legende?

Die Diskussion um diese Frage hat durch eine Aufsehen erregende Textquelle in der ThULB Jena neue Nahrung erhalten. Ende 2006 machte Dr. Martin Treu von der Stiftung Luthergedenkstätten in Wittenberg auf eine Notiz Georg Rörers (1492-1557), des langjährigen engsten Mitarbeiters Martin Luthers, die Bekanntgabe der Ablassthesen an Wittenberger Kirchentüren betreffend, aufmerksam.
Der in einem Band aus dem in der ThULB Jena verwahrten Nachlass Rörers enthaltene Text, welcher der bisherigen Forschung entgangen war, fand, obwohl er seit mehr als dreißig Jahren in der Weimarer Ausgabe (WA 48, Revisionsnachtrag, Weimar 1972, S. 116) publiziert ist, ein außergewöhnlich großes Echo in den Medien und wird seither in Wissenschaft und Öffentlichkeit kontrovers diskutiert.

Es kann vermutet werden, dass es sich um einen noch zu Luthers Lebzeiten verfassten Hinweis auf den Thesenanschlag und damit um die früheste überhaupt bekannte Quelle dazu handelt (M. Treu). Der Text wurde am 19. Februar 2007 im Vortragssaal der ThULB Jena öffentlich präsentiert. Im Rahmen dieser Präsentation eröffneten zehn Jahre vor dem 500jährigen Reformationsjubiläum Dr. Treu und Prof. Dr. Volker Leppin (FSU Jena) eine neue Diskussionsrunde zu diesem Thema

Beitrag Martin Treu

... an die Türen der Wittenberger Kirchen - Luther schlug die Thesen an

Der erste, der explizit von einem Thesenanschlag spricht, ist Philipp Melanchthon in seiner Vorrede zum 2. Band der lateinischen Werkausgabe Luthers 1546. Allerdings war Luther zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Melanchthon selbst kam erst im August 1518 nach Wittenberg und konnte so kein Augenzeuge für den Vorgang sein. Daraus hat Erwin Iserloh 1961 gefolgert, der Thesenanschlag habe nicht stattgefunden, was bis heute in der Öffentlichkeit Furore macht.

Die wieder aufgefundene kurze chronikalische Notiz Rörers kann auf Deutsch übersetzt werden: "Am Vorabend des Allerheiligenfestes im Jahre des Herren 1517 sind von Doktor Martin Luther Thesen über den Ablass an die Türen der Wittenberger Kirchen angeschlagen worden." (Übersetzungsvorschlag M. Treu)

Die Eintragung findet sich auf dem letzten Blatt des angehängten Registers zu Das Neue Testament Deutsch, Wittenberg: Hans Lufft 1540 (VD 16 B 4429). Es handelt sich dabei um das Arbeitsexemplar zur Revision der Bibel von 1541 und 1544 mit Eintragungen von Luther, zwei von Melanchthon und einer Vielzahl von Georg Rörer. Die Zeilen zum Thesenanschlag stammen nicht von Luther, sondern von seinem Sekretär Georg Rörer. Die Autorschaft Rörers erklärt, warum der Text von Luther in der dritten Person redet. Vier Argumente sprechen für eine Datierung der Notiz in den Spätherbst 1544:

  • Die Unabhängigkeit des Textes vom Bericht Melanchthons, den auch Rörer zweifelsfrei 1546 zur Kenntnis genommen hatte (ThULB Jena, Ms. Bos. q. 24u, vorderes Vorsatzblatt verso: Handschrift Rörers).
  • Die Erwähnung der beiden Wittenberger Kirchen als Ort des Thesenanschlages entspricht den ältesten Universitätsstatuten, allerdings ist auch hier Rörers Formulierung davon nicht abhängig.
  • Der Zusammenhang mit der zweiten chronikalischen Notiz Rörers auf derselben Bibelseite über das Eintreffen Melanchthons in Wittenberg am 25. August 1518 mit der Uhrzeitangabe vormittags 10.00 Uhr. Diese kann nur auf einen Augenzeugen oder Melanchthon, letzteres ist wahrscheinlicher, zurückgehen.
  • Die Stellung der chronikalischen Notiz am Ende des Bandes unmittelbar vor dem Impressum.


Die Durchsicht des Neuen Testaments wurde am 19. Dezember 1544 beendet. Insgesamt gilt das Dictum von Otto Reichert von 1923 (WA DB 4, S. XLVI) auch noch heute: "Die Urkunde muss immer stärker sein als die Reflexion." In diesem Sinne stellt Rörers Notiz die älteste autographe Quelle für den Thesenanschlag am 31. Oktober 1517 in Wittenberg dar.

Dr. Martin Treu (Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt in Wittenberg)

Beitrag Volker Leppin

Fand der Thesenanschlag doch statt? Eine kritische Würdigung

Rörers Notiz stammt wie der längst bekannte Bericht Melanchthons aus einer Zeit, in der man sich vermehrt dem Gedächtnis an Luthers Wirken widmete. Er belegt, dass man in den frühen vierziger Jahren in Wittenberg von der Tatsächlichkeit des Thesenanschlags überzeugt war, mehr aber nicht.

Diese Überzeugung kann bei Rörer, der 1517 gar nicht in Wittenberg war, so wenig wie bei Melanchthon aus eigener Augenzeugenschaft entstanden sein. Er ging einfach selbstverständlich davon aus, dass die ihm vorliegenden Ablassthesen nach dem üblichen Verfahren bekannt gegeben worden seien. Dass er sich weniger an Ereignisberichten als an den Statuten der Universität orientierte, zeigt seine Formulierung, die Thesen seien "in valuis templorum", an den Kirchentüren, vorgestellt worden. Damit greift er das Vokabular der Statuten auf, die eben einen solchen Anschlag an den Kirchentüren vorschrieben, und rekonstruiert aufgrund dieser Regelungen ein Geschehen, von dem er selbst keine genauere Kenntnis hat.

Die größte Schwierigkeit für die Annahme eines Thesenanschlags stellen nach wie vor Luthers eigene Aussagen dar, der wiederholt erklärt hat, dass er zunächst privat an Bischöfe geschrieben habe, ehe er an die Öffentlichkeit gegangen sei. Diese Aussage Luthers ist mit einem Thesenanschlag am 31. Oktober 1517 schwer zu vereinbaren.

Angesichts dessen kann die Rörer-Notiz schwerlich als gewichtige Stütze für einen Thesenanschlag angesehen werden. Die seit Jahrzehnten gegen den Thesenanschlag vorgebrachten Argumente vermag sie nicht zu entkräften:
 

  • Auch dieses Zeugnis stammt nicht von einem potenziellen Augenzeugen.
  • Auch dieses Zeugnis ist sehr spät, ungefähr ein Vierteljahrhundert nach dem berichteten Ereignis.
  • Auch dieses Zeugnis steht im Widerspruch zu Luthers eigenen Aussagen.


Interessant wird Rörers Notiz damit für die Entstehung der Erinnerungskultur im Wittenberger Lager, nicht aber für die historische Rekonstruktion des Geschehens am 31. Oktober 1517.

Prof. Dr. Volker Leppin (FSU Jena, Lehrstuhl Kirchengeschichte)

Rörers Notiz

Georg Rörers Notiz zum Thesenanschlag Martin Luthers im Wortlaut

In Martin Luthers Handexemplar seines gedruckten Werks Das Neue Testament Deutsch, Wittenberg, Hans Lufft, 1540 (ThULB Jena, Ms. App. 25), finden sich auf der Vorderseite des letzten Blattes (Bl. 413r) über dem Impressum folgende drei Zeilen:
 

Anno do[m]ini 1517 in profesto o[mn]i[u]m Sanctoru[m], p<...> (1)
Wite[m]berge in valuis temploru[m] propositæ sunt pro (2)  
de Indulgentiis, a D[octore] Mart[ino] Luth[ero]  


(1) Textverlust wegen Papierschadens. Eventuell "pridie", doch dann doppelt zu "in profesto"

(2) Textverlust wegen Papierschadens. Noch erkennbar von links nach rechts schwingender Bogen einer "pro"-Abkürzung sowie rechts davon Rest eines Buchstabens mit Unterlänge (scharfes s?)

 

Abbildungen vgl. Galerie